Wie funktioniert das Prinzip „Pacing“ bei Erkrankungen mit Fatigue-Syndrom?

Wie funktioniert das Prinzip „Pacing“ bei Erkrankungen mit Fatigue-Syndrom?

Fatigue – eine tiefe, körperliche und geistige Erschöpfung – ist ein häufiges Symptom bei verschiedenen chronischen Erkrankungen, insbesondere bei Long-COVID, ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom), Multiple Sklerose oder Fibromyalgie. Betroffene erleben eine nicht erholsame Müdigkeit, die durch Ruhe allein nicht gebessert wird und durch geringe Anstrengung deutlich verschlimmert werden kann.

Ein zentrales Selbstmanagement-Konzept bei Fatigue ist das sogenannte „Pacing“. Doch was genau steckt dahinter? Und wie kann man es sinnvoll im Alltag umsetzen?


Was bedeutet „Pacing“?

Der Begriff Pacing lässt sich mit „Einteilen“ oder „Temporisieren“ übersetzen. Es beschreibt eine Methode, bei der körperliche und geistige Aktivitäten so geplant und dosiert werden, dass es nicht zu einer Überlastung kommt – mit dem Ziel, Symptom-Verschlechterungen (Crashs) zu vermeiden.

Im Gegensatz zur weitverbreiteten Vorstellung „sich durchzubeißen“ oder die Belastungsgrenze immer weiter auszudehnen, setzt Pacing auf das genaue Gegenteil: achtsames Haushalten mit den verfügbaren Energie-Ressourcen – oft bildlich dargestellt als das sogenannte Löffelprinzip („Spoon Theory“) oder die Energiekurve.


Warum ist Pacing so wichtig?

Viele Menschen mit Fatigue-Syndromen erleben einen verzögerten Symptomanstieg, auch als post-exertionelle Malaise (PEM) bekannt: Schon eine kleine körperliche oder kognitive Anstrengung kann sich erst nach Stunden oder am Folgetag durch massive Erschöpfung, Schmerzen, Konzentrationsprobleme oder andere Symptome bemerkbar machen – manchmal mit tagelangem Rückfall.

Pacing ist deshalb kein passives Schonungsverhalten, sondern eine aktive Strategie, um innerhalb der persönlichen Belastungsgrenzen zu bleiben. Ziel ist es, einen Stabilisierungseffekt zu erzielen, durch den mit der Zeit eventuell wieder mehr Aktivität möglich wird – jedoch ohne Rückfälle zu provozieren.


Die Grundprinzipien von Pacing

1. Eigene Belastungsgrenzen erkennen:
Das Herzstück von Pacing ist das Wissen um die eigene „Crash-Grenze“. Viele Patient:innen führen dazu ein Symptom- und Aktivitätstagebuch oder nutzen Apps oder Wearables, um Muster zu erkennen.

2. Vor dem Einbruch stoppen:
Statt bis zum völligen Erschöpfen durchzuhalten, soll die Aktivität bewusst unterhalb der persönlichen Grenze beendet werden – auch wenn man sich gerade noch gut fühlt.

3. Aktivitäten aufteilen und Pausen einbauen:
Längere Aufgaben werden in kleine Einheiten zerlegt. Zwischen den Aktivitäten sind regelmäßige, geplante Ruhephasen wichtig – nicht erst, wenn die Erschöpfung bereits spürbar ist.

4. Körperliche und kognitive Belastung gleichwertig beachten:
Lesen, Gespräche, Bildschirmarbeit – auch geistige Reize können Energie rauben und sollten eingeplant werden.

5. Priorisieren und delegieren:
Nicht alles muss selbst gemacht werden. Wer Pacing ernst nimmt, muss lernen, Nein zu sagen, Hilfe anzunehmen und Prioritäten zu setzen.

6. Individuelle Energielevel täglich neu einschätzen:
Es gibt gute und schlechte Tage. Pacing bedeutet, sich nicht starr an einen Plan zu klammern, sondern flexibel und tagesaktuell zu agieren.


Praktische Umsetzung im Alltag

  • Erstelle eine Energie-Skala (z. B. 0–100 %) und schätze deinen aktuellen Zustand morgens ein.

  • Verwende Timer oder Apps, um Aktivitäten zu begrenzen und Pausen zu strukturieren.

  • Arbeite mit dem „Stopp-vor-dem-Stopp“-Prinzip: Beende jede Tätigkeit 5–10 Minuten früher, als du eigentlich könntest.

  • Führe ein Aktivitätstagebuch, um Muster zwischen Aktivität und Erschöpfung zu erkennen.

  • Nutze visuelle Symbole oder Ampelsysteme, um Angehörige oder Kolleg:innen zu informieren („Grün“ = aktiv, „Gelb“ = langsamer, „Rot“ = Ruhe nötig).


Grenzen und Chancen von Pacing

Pacing ist keine Heilung, aber ein Werkzeug, um die Lebensqualität zu verbessern, Rückfälle zu vermeiden und eine gewisse Stabilität zu erreichen. Studien zeigen, dass Patient:innen, die konsequent pacen, weniger Crashs erleben und oft langfristig besser mit ihrer Erkrankung zurechtkommen.

Es braucht Geduld, Selbstbeobachtung und manchmal auch therapeutische Unterstützung, etwa durch Ergotherapie oder spezialisierte Fatigue-Ambulanzen.


Fazit

Pacing ist eine lebensnahe, individuelle und neurobiologisch sinnvolle Strategie für Menschen mit Fatigue-Syndromen. Es hilft, die eigenen Energie-Ressourcen zu managen, Rückfälle zu verhindern und mit der Erkrankung besser zurechtzukommen – ohne sich zu überfordern. Nicht selten bedeutet das: Weniger ist mehr.


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