Wenn das Gehirn sieht, was die Augen nicht mehr sehen – Das Charles-Bonnet-Syndrom
Einleitung:
Stellen Sie sich vor, Sie sehen plötzlich Menschen, Tiere oder Landschaften – gestochen scharf und farbenfroh. Doch niemand außer Ihnen sieht sie. Diese lebhaften visuellen Halluzinationen treten nicht bei einer psychiatrischen Erkrankung auf, sondern häufig bei älteren Menschen mit starker Sehbehinderung. Das Charles-Bonnet-Syndrom (CBS) ist eine neurologische Besonderheit, die noch immer unterschätzt wird. In diesem Artikel erklären wir auf Basis der aktuellen Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und der AWMF, was es mit dem Syndrom auf sich hat, wie es diagnostiziert wird und welche Hilfen es für Betroffene gibt.
Was ist das Charles-Bonnet-Syndrom?
Das Charles-Bonnet-Syndrom beschreibt das Auftreten visueller Halluzinationen bei Menschen mit stark eingeschränktem Sehvermögen – bei gleichzeitig ungestörter geistiger Funktion. Es handelt sich also nicht um Wahnvorstellungen oder Anzeichen einer psychischen Erkrankung. Vielmehr ist es ein „Entlastungsphänomen“ des Gehirns: Wenn keine ausreichenden visuellen Reize mehr vom Auge an das Gehirn gelangen, „kompensiert“ das Gehirn den Mangel, indem es eigenständig Bilder erzeugt.
Wer ist betroffen?
CBS tritt besonders bei älteren Menschen auf, die unter Erkrankungen wie Makuladegeneration, Glaukom oder diabetischer Retinopathie leiden. Studien zufolge erleben bis zu 10–15 % der schwer sehbehinderten Menschen im Alter visuelle Halluzinationen. Die tatsächliche Zahl könnte höher liegen – aus Scham oder Angst vor einer Fehldiagnose sprechen viele Betroffene nicht über ihre Erlebnisse.
Typische Symptome
Laut den aktuellen Leitlinien der DGN und der AWMF sind die Halluzinationen beim CBS:
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komplex (Menschen, Tiere, Szenen) oder einfach (Lichter, Muster, geometrische Formen),
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nicht bedrohlich, oft sogar ästhetisch ansprechend,
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meist nicht mit anderen Sinneswahrnehmungen (Geruch, Geräusch) verbunden,
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dem Patienten bewusst als unwirklich,
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häufig in Ruhephasen oder in dunklen Umgebungen auftretend.
Pathophysiologie: Was passiert im Gehirn?
Die neurologische Erklärung basiert auf dem Prinzip der Deafferentierung: Der visuelle Kortex erhält keine ausreichenden Signale mehr von der Retina. Diese „sensorische Unterversorgung“ führt zu einer Hyperaktivität im visuellen Kortex, wodurch eigenständig Bilder erzeugt werden – ähnlich wie Phantomschmerzen nach Amputationen. Die Leitlinie der DGN (S3-Niveau) beschreibt diesen Mechanismus als „freigesetzte Aktivität“ im Rahmen einer gestörten sensorischen Integration.
Wie wird CBS diagnostiziert?
Die Diagnose ist klinisch und basiert auf drei Kriterien:
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Visuelle Halluzinationen bei nachgewiesener Sehbehinderung,
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Erhaltener Realitätsbezug,
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Keine Hinweise auf psychiatrische oder neurologische Erkrankungen wie Schizophrenie oder Demenz.
Ein Gespräch mit gezielten Fragen nach visuellen Wahrnehmungen ist zentral. Die DGN-Leitlinie empfiehlt, Betroffene aktiv danach zu befragen, da viele von sich aus nichts berichten.
Differenzialdiagnosen
CBS muss sorgfältig abgegrenzt werden von:
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Demenzformen (z. B. Lewy-Körper-Demenz),
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Psychosen,
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Epileptischen Halluzinationen,
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Intoxikationen oder Medikamentennebenwirkungen.
Eine gründliche Anamnese, neurologische Untersuchung und ggf. bildgebende Diagnostik (MRT) sind sinnvoll, um andere Ursachen auszuschließen.
Behandlung und Umgang mit CBS
Es gibt keine kausale medikamentöse Therapie für das Charles-Bonnet-Syndrom. Wichtig sind:
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Aufklärung und Beruhigung der Patienten – das Wissen, dass die Halluzinationen harmlos sind, reduziert Angst und Verunsicherung.
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Optimierung der Sehkraft (z. B. durch Hilfsmittel, Brillenanpassung).
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Verhaltenstipps: Licht einschalten, Augenbewegungen, Blinzeln oder ein Positionswechsel können helfen, Halluzinationen zu unterbrechen.
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Therapeutische Begleitung, ggf. niedrigschwellige psychosoziale Beratung.
Nur in seltenen Fällen empfiehlt die DGN-Leitlinie den Einsatz von Antipsychotika, und nur bei starkem Leidensdruck und nach Ausschluss anderer Ursachen.
Fazit
Das Charles-Bonnet-Syndrom ist ein faszinierendes Beispiel dafür, wie das Gehirn auf sensorische Deprivation reagiert. Für Betroffene kann es sehr entlastend sein zu wissen, dass die Halluzinationen keine psychische Erkrankung anzeigen. Aufklärung, Verständnis und ein sensibler Umgang helfen, das Syndrom aus der Tabuzone zu holen.
Literaturverzeichnis
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Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN). S3-Leitlinie: Halluzinationen (visuelle und andere Sinnestäuschungen). AWMF-Registernummer: 030-135. Letzte Aktualisierung: 2020.
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Wenn Sie selbst betroffen sind oder jemanden kennen, der unter solchen Seherlebnissen leidet, sprechen Sie mit einem Augenarzt oder Neurologen. Informieren hilft – und beruhigt.
Weitere Informationen und Hilfe
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