Digitale Gesundheitsanwendungen in der Neurologie: Chancen, Evidenz und Einsatzmöglichkeiten
Einleitung
Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) sind seit dem Inkrafttreten des Digitale-Versorgung-Gesetzes (DVG) im Jahr 2020 ein fester Bestandteil der kassenärztlich erstattungsfähigen Versorgung in Deutschland. Sie bieten neue Möglichkeiten der digitalen Therapieunterstützung und gewinnen insbesondere in der Neurologie zunehmend an Bedeutung. Dieser Artikel gibt einen Überblick über aktuelle digitale Anwendungen, ihre rechtlichen Rahmenbedingungen, ihren Nutzen und ihre praktische Relevanz im neurologischen Alltag – basierend auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und unter Bezugnahme auf die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und der AWMF.
Was sind DiGA?
Digitale Gesundheitsanwendungen sind CE-zertifizierte Medizinprodukte niedriger Risikoklasse, die Patientinnen direkt bei der Erkennung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten unterstützen. Sie müssen Datenschutz- und Sicherheitsstandards erfüllen und einen medizinischen oder strukturellen Nutzen nachweisen, etwa durch randomisierte kontrollierte Studien (RCT). Die Verordnung erfolgt über ein Muster-16-Rezept, ist für gesetzlich Versicherte zuzahlungsfrei und kann von Ärztinnen sowie Psychotherapeut*innen durchgeführt werden.
DiGA in der Neurologie: Aktuelle Anwendungen
Zum Stand März 2025 sind acht digitale Gesundheitsanwendungen explizit für neurologische Indikationen gelistet:
Multiple Sklerose
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elevida: Dauerhaft gelistete DiGA zur Behandlung der MS-assoziierten Fatigue mit kognitiv-verhaltenstherapeutischen Elementen.
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levidex: Vorläufig gelistete DiGA zur Verbesserung der Lebensqualität bei MS.
Schlafstörungen (Insomnie)
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HelloBetter Schlafen
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somnio
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somnovia
Diese Anwendungen basieren auf der kognitiven Verhaltenstherapie für Insomnie (CBT-I) und bieten Module zur Schlafhygiene, Stimuluskontrolle und kognitiver Umstrukturierung. somnio ist dabei die einzige DiGA mit ärztlich abrechenbarer Verlaufskontrolle.
Weitere neurologisch relevante DiGA
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neolexon Aphasie: Unterstützt Sprachrehabilitation bei Aphasie und Sprechapraxie, in Kooperation mit Logopäd*innen.
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NeuroNation MED: Kognitives Training bei leichter kognitiver Störung (F06.7).
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sinCephalea – Migräneprophylaxe: Ernährungsbasierte Migräneprophylaxe mithilfe eines Blutzuckersensors zur individuellen Low-Glycemic-Ernährung.
Diese DiGA richten sich an Patientengruppen mit neurodegenerativen Erkrankungen, Schlaganfällen oder Migräne, also klassischen Zielgruppen neurologischer Versorgung.
Evidenzbasierung und Nutzen
Die Zulassung einer DiGA setzt einen positiven Versorgungseffekt voraus. Dieser kann medizinisch oder strukturell-prozessual sein (z. B. Verbesserung der Therapieadhärenz). Viele DiGA verfügen bereits über solide Studien, wie z. B.:
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elevida: signifikante Reduktion der Fatigue in einem RCT mit 275 MS-Patient*innen (Pöttgen et al. 2018).
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levidex: Verbesserung der Lebensqualität bei MS in einer RCT mit 421 Teilnehmenden (Meyer et al. 2024).
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HelloBetter Schlafen: signifikante Reduktion von Insomnie-Beschwerden im Vergleich zu einer Kontrollgruppe.
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neolexon Aphasie: verbesserte sprachliche Fähigkeiten in Kombination mit klassischer Logopädie (RCT mit 196 Patient*innen).
Weitere Studien laufen derzeit oder befinden sich in der Auswertung durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM).
Integration in die Praxis
Für die neurologische Praxis eröffnen sich mit DiGA neue Möglichkeiten der Begleitung chronischer Erkrankungen – etwa zur Überbrückung von Wartezeiten auf Psychotherapieplätze oder zur nachhaltigen Aktivierung der Patient*innen. Die DGN und die AWMF begrüßen in ihren Stellungnahmen grundsätzlich den Einsatz von evidenzbasierten digitalen Tools, weisen jedoch darauf hin, dass diese Angebote qualitativ geprüft und nur bei therapeutischer Sinnhaftigkeit eingesetzt werden sollten.
Besonderheiten wie die Zusammenarbeit mit Logopäd*innen (z. B. bei neolexon) oder die individuelle Anpassung der Nutzung (z. B. bei NeuroNation MED) erhöhen die Flexibilität im Versorgungsalltag.
Ausblick: Chancen und Herausforderungen
Digitale Anwendungen bieten ein hohes Potenzial zur Unterstützung der neurologischen Versorgung – insbesondere bei chronischen Erkrankungen, multimorbiden Patient*innen oder in strukturschwachen Regionen. Die Herausforderungen liegen u. a. in der begrenzten Nutzung durch bestimmte Altersgruppen, fehlender digitaler Gesundheitskompetenz und der noch eingeschränkten Integration in die Regelversorgung.
Ein zukunftsfähiges Modell könnte in einer Kombination aus ärztlich begleiteter Nutzung, datenbasierter Verlaufskontrolle und Pay-for-Performance-Vergütung liegen – ein Ansatz, der aktuell diskutiert wird.
Fazit
Digitale Gesundheitsanwendungen sind in der Neurologie angekommen. Richtig eingesetzt, können sie eine sinnvolle Ergänzung zur bestehenden Therapie darstellen, die Patient*innen mehr Autonomie gibt und gleichzeitig die Effizienz der Versorgung verbessert. Die sorgfältige Auswahl und Verordnung auf Basis der Indikation und Evidenz ist dabei entscheidend.
Literaturverzeichnis
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Guth M. Digitale Gesundheitsanwendungen in der Neurologie. Neurologie up2date. 2025;8(2):173–189. doi:10.1055/a-2299-6744
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Bundesministerium für Gesundheit. Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA). https://www.bundesgesundheitsministerium.de/digitale-versorgung-gesetz.html
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Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). https://diga.bfarm.de
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Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN). S1-Leitlinie: Einsatz digitaler Gesundheitsanwendungen in der neurologischen Praxis. AWMF-Register-Nr. 030-140. 2022. https://www.awmf.org
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Techniker Krankenkasse. DiGA-Report 2022. https://www.tk.de/resource/blob/2125136/
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Stiftung Warentest. Online-Schlafprogramme im Test. 2025. https://www.test.de/Online-Programme-gegen-Schlafstoerungen-im-Test-6110382-0/
Weitere Informationen und Hilfe
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