Was ist ein Neglect? – Wenn das Gehirn eine Seite der Welt „vergisst“
Stellen Sie sich vor, Sie sehen nur die rechte Hälfte eines Tellers mit Essen – und glauben, der Teller sei leer. Oder Sie schminken nur eine Gesichtshälfte, ohne es zu bemerken. Was absurd klingt, ist für Menschen mit einem sogenannten Neglect oft traurige Realität. Doch was steckt hinter diesem neurologischen Phänomen?
Der Begriff „Neglect“
Das Wort „Neglect“ kommt aus dem Englischen und bedeutet so viel wie „Vernachlässigung“. In der Medizin bezeichnet der Begriff eine Aufmerksamkeitsstörung, bei der Betroffene eine Seite ihres Raumes – meist die linke – nicht mehr wahrnehmen oder beachten, obwohl die Sinnesorgane selbst in Ordnung sind.
Ursachen: Wenn eine Gehirnhälfte ausfällt
Ein Neglect tritt meistens nach einem Schlaganfall auf, insbesondere wenn die rechte Gehirnhälfte betroffen ist. Das liegt daran, dass die rechte Hirnhälfte für die Aufmerksamkeit in beide Raumhälften zuständig ist, während die linke fast ausschließlich die rechte Seite „betreut“. Fällt die rechte Seite aus, fehlt diese übergeordnete Kontrolle – und der linke Raum „verschwindet“ aus dem Bewusstsein.
Andere mögliche Ursachen sind:
-
Hirnblutungen
-
Schädel-Hirn-Traumata
-
Hirntumoren
Symptome: Mehr als „nur“ Sehstörung
Der Neglect ist keine klassische Sehstörung, sondern eine Störung der Aufmerksamkeit. Das bedeutet: Der betroffene Mensch kann auf der vernachlässigten Seite durchaus sehen – aber er beachtet diese Seite nicht. Zu den häufigsten Symptomen zählen:
-
Patienten sehen nur eine Seite des Bildes oder Raumes (überwiegend rechts).
-
Beim Zeichnen fehlt eine Raumhälfte (z. B. nur die rechte Hälfte eines Hauses).
-
Beim Lesen werden Wortanfänge übersehen („Haus“ wird zu „us“).
-
Beim Essen bleibt die linke Tellerhälfte unberührt.
-
Hindernisse oder Menschen auf der betroffenen Seite werden ignoriert.
Oft fehlt auch das Krankheitsbewusstsein: Viele Betroffene merken gar nicht, dass sie etwas übersehen – eine zusätzliche Herausforderung für die Therapie.
Diagnostik: Wie wird ein Neglect erkannt?
Ein erfahrener Neurologe kann den Verdacht auf einen Neglect oft schon durch einfache Tests bestätigen:
-
Zeichentests (z. B. Abzeichnen einer Uhr oder eines Hauses)
-
Durchstreich-Tests: Dabei müssen bestimmte Symbole auf einem Blatt markiert werden. Beim Neglect werden die auf der betroffenen Seite oft ausgelassen.
-
Linienteilungstests: Linien sollen mittig markiert werden – bei Neglect wird der Mittelpunkt mehrheitlich deutlich zur gesunden Seite hin verschoben.
Bildgebende Verfahren wie MRT oder CT können zusätzlich den Ort und das Ausmaß der Schädigung sichtbar machen.
Therapie: Aufmerksamkeit trainieren
Die Behandlung eines Neglects ist komplex, aber möglich. Sie erfolgt meist im Rahmen einer neurologischen Rehabilitation und umfasst:
-
Ergotherapie: Förderung der Alltagskompetenz und gezielte Aufmerksamkeitstrainings
-
Neuropsychologische Therapie: Übungen zur Verbesserung der Raumwahrnehmung
-
Physio- und Bewegungstherapie: Aktivierung der betroffenen Seite durch gezielte Reize
-
Prismenbrillen: Spezialbrillen, die das Sichtfeld verändern und so die Aufmerksamkeit auf die vernachlässigte Seite lenken
-
Visuelles Scanning: Aktives Suchen nach Reizen auf der betroffenen Seite
Je früher die Therapie beginnt, desto besser sind die Chancen auf eine (Teil-)Erholung. Dennoch bleibt der Neglect in vielen Fällen eine dauerhafte Einschränkung.
Fazit: Der unsichtbare „blinde Fleck“
Der Neglect zeigt eindrücklich, wie sehr unsere Wahrnehmung vom Gehirn gesteuert wird – und wie schwerwiegend die Folgen einer einseitigen Schädigung sein können. Betroffene benötigen viel Geduld, gezielte Therapie und Unterstützung im Alltag. Mit der richtigen Behandlung können jedoch viele Funktionen wieder gebessert oder kompensiert werden.
Weitere Themen zu neurologischen Symptomen und Erkrankungen finden Sie auf neurowissen.com – Ihrem Portal für verständliches Wissen über das Gehirn.