Hochsensibilität bei Kindern und Erwachsenen – Wissenschaftlich verstehen und achtsam begleiten
Was ist Hochsensibilität?
Hochsensibilität ist ein Begriff, der in der Öffentlichkeit zunehmend Aufmerksamkeit erfährt. Viele Menschen empfinden sich selbst oder ihre Kinder als besonders empfindsam gegenüber Reizen, Stimmungen oder sozialen Spannungen. Doch was bedeutet das genau – und wie ist der Begriff wissenschaftlich einzuordnen?
Hochsensibilität beschreibt eine erhöhte Empfänglichkeit für innere und äußere Reize. Hochsensible Personen (HSP) nehmen ihre Umwelt intensiver wahr, verarbeiten Sinneseindrücke tiefer und reagieren empfindlicher auf soziale, emotionale und sensorische Reize. Sie sind oft besonders einfühlsam, kreativ und gewissenhaft – aber auch anfälliger für Überstimulation und Erschöpfung.
Hochsensibilität: Keine offizielle Diagnose, aber ein relevantes Konzept
Aktuell ist Hochsensibilität keine anerkannte medizinische oder psychiatrische Diagnose. In der Klassifikation der ICD-11 (Internationale Klassifikation der Krankheiten) oder DSM-5 (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen) findet der Begriff keine Erwähnung. Auch in den Leitlinien der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften) wird der Begriff „Hochsensibilität“ nicht als eigenständige Entität geführt.
Trotzdem gibt es wissenschaftlich fundierte Überschneidungen mit bestehenden Konzepten wie:
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Sensorische Verarbeitungs-Sensitivität (SPS)
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Temperamentsforschung (z. B. „slow-to-warm-up“)
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Persönlichkeitsmerkmale wie Neurotizismus oder Offenheit
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Psychische Vulnerabilität bei Stressverarbeitung
Einordnung und Unterstützung sollten daher stets differenzialdiagnostisch abgesichert und in den Kontext etablierter Modelle gestellt werden.
Hochsensibilität bei Kindern
Hochsensible Kinder zeigen häufig:
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Eine niedrige Reizschwelle (z. B. empfindlich gegenüber Licht, Geräuschen, Textilien)
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Emotionale Intensität, z. B. starkes Mitgefühl oder tiefe Traurigkeit
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Sorgfältige Beobachtung neuer Situationen, bevor sie sich einbringen
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Rückzug bei Überstimulation („zu viel Trubel“)
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Eine ausgeprägte Empathie und Intuition
Wichtig ist: Diese Eigenschaften sind weder pathologisch noch behandlungsbedürftig, solange sie das Kind nicht in seiner Entwicklung und Lebensqualität einschränken.
Die AWMF-Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von Entwicklungsstörungen, emotionalen Auffälligkeiten und ADHS betonen die Notwendigkeit einer sorgfältigen Abgrenzung zu anderen Störungen – z. B. Angststörungen, Autismus-Spektrum-Störungen oder ADHS. Hochsensible Kinder zeigen oft keine klinisch auffällige Symptomatik, sondern ein Profil des Temperaments im Rahmen der Normalvarianten kindlicher Entwicklung.
Hochsensibilität bei Erwachsenen
Bei Erwachsenen zeigt sich Hochsensibilität oft in folgenden Bereichen:
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Emotionale Tiefgründigkeit und intensive Verarbeitung sozialer Interaktionen
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Schnelle Überforderung durch Lärm, Hektik oder Multitasking
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Hohes Bedürfnis nach Rückzug und Regeneration
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Perfektionismus, verbunden mit Selbstkritik
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Häufigere psychosomatische Beschwerden (z. B. Schlafprobleme, Reizdarm)
Laut aktueller Studienlage ist Hochsensibilität kein Risikofaktor per se, kann jedoch in Kombination mit belastenden Umweltfaktoren oder traumatischen Erfahrungen die Vulnerabilität für psychische Erkrankungen erhöhen – wie z. B. Depressionen, Angststörungen oder Erschöpfungszustände.
Auch hier betont die AWMF in verschiedenen Leitlinien zur psychischen Gesundheit die Bedeutung einer ressourcenorientierten, integrativen Begleitung, z. B. durch:
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Achtsamkeitstraining (MBSR, MBCT)
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Emotionsfokussierte Therapieansätze
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Psychoedukation und Selbstfürsorge
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Umweltanpassung im Berufs- und Familienalltag
Umgang mit Hochsensibilität: Was hilft?
Ob Kind oder Erwachsener – Hochsensibilität verlangt keine „Heilung“, sondern Verständnis und achtsame Begleitung. Bewährt haben sich:
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Selbstakzeptanz und Wissen: Das Erkennen der eigenen Sensibilität als Ressource
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Reizregulation: Schaffung ruhiger Rückzugsräume und Pausen
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Routinen und Struktur: Sicherheit und Vorhersagbarkeit helfen bei der Reizverarbeitung
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Kommunikation im sozialen Umfeld: Familie, Schule, Arbeitsplatz
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Therapeutische Unterstützung (bei Überforderung): durch verhaltenstherapeutische, achtsamkeitsbasierte oder systemische Verfahren
Fazit
Hochsensibilität ist ein facettenreiches Persönlichkeitsmerkmal, das weder eine Krankheit noch eine Modeerscheinung ist. Zwar fehlt (noch) eine offizielle Anerkennung im medizinischen Klassifikationssystem, dennoch lässt sich das Konzept in vielen wissenschaftlichen Modellen psychischer Entwicklung verankern. Es ist entscheidend, zwischen Normalvarianten, vulnerablen Persönlichkeitszügen und behandlungsbedürftigen psychischen Störungen zu differenzieren – gerade im Kindesalter.
Eltern, Pädagog*innen und Betroffene profitieren von einem achtsamen, informierten Umgang, der Stärken fördert und Belastungen mindert. Hochsensibilität kann – richtig begleitet – zur besonderen Ressource werden.
Literaturverzeichnis
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AWMF-Leitlinie: Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter – www.awmf.org
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Aron, E. N. (1996). The Highly Sensitive Person. New York: Broadway Books.
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Pluess, M. (2015). Individual differences in environmental sensitivity. Child Development Perspectives, 9(3), 138–143.
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Greven, C. U., Lionetti, F., Booth, C., et al. (2019). Sensory Processing Sensitivity in the context of Environmental Sensitivity: A critical review and development of research agenda. Neuroscience & Biobehavioral Reviews, 98, 287–305.
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AWMF-Leitlinie: Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter, Langversion 2023 – www.awmf.org
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AWMF-Leitlinie: Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen, S3-Leitlinie 2019 – www.awmf.org
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