Hochbegabung bei Erwachsenen – Wenn das Gehirn mehr leistet als erwartet
Hochbegabung wird oft mit außergewöhnlichen schulischen Leistungen in der Kindheit verbunden. Doch viele Menschen entdecken ihre besondere kognitive Leistungsfähigkeit erst im Erwachsenenalter – häufig durch Zufall oder nach einer längeren Leidensgeschichte. Die wissenschaftlichen Leitlinien, insbesondere die S3-Leitlinie der AWMF zur Diagnostik und Förderung von Hochbegabung, bieten eine wertvolle Orientierung zur Einordnung, Diagnostik und Begleitung von hochbegabten Erwachsenen.
Was bedeutet Hochbegabung?
Laut der AWMF-Leitlinie wird Hochbegabung definiert als eine deutlich überdurchschnittliche intellektuelle Fähigkeit, die in der Regel durch einen Intelligenzquotienten (IQ) von ≥ 130 gekennzeichnet ist. Nur etwa 2 % der Bevölkerung erreichen diesen Wert. Die intellektuelle Hochbegabung ist dabei nicht mit Hochleistung gleichzusetzen – viele Hochbegabte fallen nicht durch besondere Erfolge auf.
Warum bleibt Hochbegabung im Erwachsenenalter oft unerkannt?
Bei Erwachsenen wird Hochbegabung häufig nicht erkannt, weil:
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sie in der Kindheit nicht getestet oder erkannt
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Betroffene sich anpassen, um „nicht anders“ zu erscheinen
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psychische Probleme (z. B. Depression, Burn-out) im Vordergrund stehen
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eine Überforderung durch Unterforderung besteht („Mismatch“ zwischen intellektuellem Potenzial und realem Arbeitsumfeld)
Viele Erwachsene erleben ihre Hochbegabung nicht als Ressource, sondern als Belastung – vor allem, wenn sie nie gelernt haben, ihre besonderen Fähigkeiten konstruktiv zu nutzen
Anzeichen für Hochbegabung im Erwachsenenalter
Die AWMF-Leitlinie benennt typische Hinweise, die auf eine mögliche Hochbegabung hindeuten können:
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Außergewöhnlich schnelles Denken und Lernen
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Hohe Reflexionsfähigkeit und kritisches Hinterfragen
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Starker Gerechtigkeitssinn und ausgeprägte Empathie
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Perfektionismus und Selbstkritik
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Reizoffenheit (z. B. Überempfindlichkeit gegenüber Lärm oder sozialen Reizen)
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Gefühl von Anderssein und mangelnder Zugehörigkeit
Diese Merkmale sind keine Diagnosekriterien, können jedoch in einem klinischen oder beratenden Kontext als Indikatoren für eine weiterführende Diagnostik dienen.
Diagnostik: Wie wird Hochbegabung festgestellt?
Die AWMF empfiehlt zur Diagnostik eine standardisierte Intelligenztestung durch qualifizierte Fachpersonen (z. B. Fachärztinnen für Psychiatrie, Psychologinnen mit entsprechender Ausbildung). Häufig verwendete Verfahren sind u.a.:
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Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene (WAIS)
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CFT 20-R (Culture Fair Test)
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Raven’s Progressive Matrices
Die Diagnostik sollte nicht nur den IQ-Wert berücksichtigen, sondern auch psychische, soziale und berufliche Faktoren sowie die Lebensgeschichte der betroffenen Person.
Hochbegabung ist keine krankhafte Diagnose – aber eine wichtige Information
Hochbegabung ist keine psychische Störung und steht nicht im ICD-10 oder DSM-5. Dennoch kann sie im klinischen Alltag eine entscheidende Rolle spielen – insbesondere bei Differenzialdiagnosen (z. B. ADHS, Depression, Autismus-Spektrum-Störungen). Die AWMF-Leitlinie betont, dass eine Hochbegabung fälschlicherweise pathologisiert werden kann, wenn ihre Merkmale missinterpretiert werden.
Herausforderungen im Alltag
Viele hochbegabte Erwachsene berichten von:
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Langeweile im Job oder häufiger Jobwechsel
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Schwierigkeiten mit Autoritäten oder Hierarchien
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Überlastung durch zu hohe Erwartungen (auch an sich selbst)
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Gefühl der Isolation trotz guter äußerer Integration
Diese Erfahrungen können psychisch stark belasten, speziell, wenn die eigene Hochbegabung nicht erkannt oder verstanden wird.
Wie kann man als Erwachsener gut mit Hochbegabung umgehen?
Die AWMF empfiehlt folgende unterstützende Maßnahmen:
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Psychoedukation über das Thema Hochbegabung
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Coaching oder Psychotherapie mit spezifischer Expertise in der Arbeit mit Hochbegabten
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Austausch mit Gleichgesinnten, z. B. in Hochbegabtenvereinen
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Berufliche Neuorientierung oder Gestaltung eines Arbeitsumfelds, das intellektuelle Herausforderungen bietet
Ziel ist es, dass hochbegabte Erwachsene ihre Potenziale entfalten können, ohne an sich selbst oder an der Umwelt zu scheitern.
Fazit
Hochbegabung bei Erwachsenen ist ein Thema, das oft unter dem Radar bleibt – obwohl es für die betroffenen Menschen eine große Bedeutung haben kann. Die wissenschaftlichen Empfehlungen der AWMF zeigen: Hochbegabung ist kein Makel, sondern eine besondere Disposition, die Verständnis, passende Rahmenbedingungen und manchmal auch therapeutische Begleitung braucht. Ein bewusster Umgang mit der eigenen kognitiven Begabung kann nicht nur das Selbstverständnis stärken, sondern auch zu einem erfüllteren Leben führen.
Literaturverzeichnis
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Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF).
S3-Leitlinie Diagnostik und Förderung von Hochbegabung.
AWMF-Registernummer 048-013. Verabschiedet 2020.
https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/048-013.html -
Holling, H., Preckel, F., Vock, M. (2018).
Diagnostik der Hochbegabung bei Erwachsenen.
In: Rost, D. H. (Hrsg.), Handbuch Intelligenz. Beltz. -
Karpinski, R. I., Kinase Kolb, A. M., Tetreault, N. A., & Borowski, T. B. (2018).
High intelligence: A risk factor for psychological and physiological overexcitabilities.
Intelligence, 66, 8–23.
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