Abgrenzung Hochbegabung und AD(H)S – Eine diagnostische Herausforderung
Einleitung
Hochbegabung und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sind zwei Phänomene, die auf den ersten Blick gegensätzlich erscheinen mögen – auf der einen Seite die außergewöhnlich hohe intellektuelle Leistungsfähigkeit, auf der anderen Seite Schwierigkeiten mit Aufmerksamkeit, Impulsivität und Selbstregulation. Doch in der Praxis kann die Unterscheidung zwischen beiden Diagnosen sehr herausfordernd sein, da sich ihre Symptome überschneiden können. Dies führt nicht selten zu Fehldiagnosen oder zur Vernachlässigung der tatsächlichen Ursachen von Verhaltens- und Leistungsproblemen bei Kindern und Jugendlichen.
Dieser Artikel erläutert die Unterschiede und Überschneidungen zwischen Hochbegabung und AD(H)S auf Basis der aktuellen Leitlinien der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften) und gibt Hinweise für die klinische Diagnostik und Praxis.
Was ist Hochbegabung?
Laut Definition versteht man unter Hochbegabung eine überdurchschnittlich hohe intellektuelle Leistungsfähigkeit, die meist über einen Intelligenzquotienten (IQ) von 130 definiert wird. Hochbegabte Kinder zeigen häufig:
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eine schnelle Auffassungsgabe,
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eine hohe Lernfähigkeit,
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ausgeprägte sprachliche oder mathematische Fähigkeiten,
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ein hohes Maß an Kreativität und Problemlösefähigkeiten,
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intensives Interesse an spezifischen Themen.
Sie fallen jedoch nicht zwangsläufig durch schulischen oder sozialen Erfolg auf. Im Gegenteil: Wenn ihre Bedürfnisse nicht erkannt und gefördert werden, können auch hochbegabte Kinder Verhaltensauffälligkeiten entwickeln.
Was ist AD(H)S?
Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ist laut AWMF-Leitlinie ADHS (AWMF-Registernummer 028-045) eine neurobiologische Störung mit Symptomen in den Bereichen:
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Unaufmerksamkeit (z. B. Flüchtigkeitsfehler, geringe Konzentrationsspanne),
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Hyperaktivität (z. B. Zappeln, Herumlaufen, exzessive Gesprächigkeit),
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Impulsivität (z. B. unüberlegtes Handeln, Unterbrechen anderer).
Die Symptome müssen situationsübergreifend auftreten, seit der Kindheit bestehen und zu einer klinisch bedeutsamen Beeinträchtigung in Schule, Familie oder sozialen Beziehungen führen.
Überschneidungen und Verwechslungsgefahr
In der Praxis kommt es häufig vor, dass hochbegabte Kinder fälschlich mit AD(H)S diagnostiziert werden – oder umgekehrt. Einige Gründe dafür:
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Unterforderung im Unterricht kann bei Hochbegabten zu Unruhe, Tagträumen oder mangelnder Motivation führen – Symptome, die AD(H)S ähneln.
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Reizoffenheit und hohe Sensibilität können mit emotionaler Impulsivität verwechselt werden.
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Kreative Denkprozesse führen mitunter zu scheinbarer Sprunghaftigkeit.
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Perfektionismus und Langeweile können schulische Leistungen trotz hoher Intelligenz verschlechtern – ähnlich wie bei AD(H)S.
Die AWMF-Leitlinien betonen daher die Notwendigkeit einer differenzialdiagnostischen Abklärung, um Fehldiagnosen zu vermeiden.
Gemeinsame und unterscheidende Merkmale
Merkmal | Hochbegabung | AD(H)S |
---|---|---|
Aufmerksamkeit | Fokussiert bei Interesse, Abschweifen bei Unterforderung | Grundlegende und situationsübergreifende Aufmerksamkeitsprobleme |
Motivation | Hoch bei interessengeleiteten Themen | Oft wechselnde Motivation, auch bei bevorzugten Themen |
Impulsivität | Kann auftreten bei Ungeduld oder Perfektionismus | Situationsübergreifend, auch sozial problematisch |
Verhalten in der Schule | Häufig Langeweile, Rückzug oder störendes Verhalten | Auffälliges Verhalten in mehreren Kontexten |
Sozialverhalten | Kann sozial unsicher oder „anders“ wirken | Häufige Schwierigkeiten in der Selbstregulation sozialer Interaktionen |
Leistung | Oft sehr hohe oder sehr variable Leistungen | Eher durchgängig unter dem erwarteten Niveau bei intakter Intelligenz |
Diagnostischer Zugang laut AWMF-Leitlinien
Die AWMF empfiehlt in ihrer S3-Leitlinie zur ADHS eine mehrdimensionale Diagnostik, bei der komorbide Störungen und differenzialdiagnostische Abgrenzungen wie Hochbegabung explizit berücksichtigt werden sollen.
Wichtige Elemente der Diagnostik sind:
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Standardisierte Intelligenzdiagnostik (z. B. WISC-V),
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Verhaltensbeobachtung in verschiedenen Lebensbereichen,
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Fremdbeurteilungen durch Eltern und Lehrkräfte (z. B. mit Fragebögen wie SDQ, Conners-3),
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Anamnese inkl. Entwicklung, schulische Leistungen und soziale Integration,
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ggf. psychologische Testverfahren zur Erfassung von Aufmerksamkeit und Exekutivfunktionen.
Wird eine Hochbegabung festgestellt, ist entscheidend zu prüfen, ob Verhaltensauffälligkeiten primär aus der Begabung resultieren (z. B. durch Unterforderung) oder ob eine komorbide AD(H)S vorliegt, was durchaus möglich ist. In solchen Fällen spricht man von einer sogenannten „Doppeldiagnose“.
Empfehlungen für Eltern und Fachkräfte
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Keine vorschnellen Schlüsse ziehen: Sowohl Hochbegabung als auch AD(H)S benötigen eine sorgfältige Diagnostik durch spezialisierte Fachkräfte.
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Auf den Kontext achten: Verhalten sollte in verschiedenen Lebensbereichen beobachtet und bewertet werden.
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Potenziale fördern: Hochbegabte Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten benötigen ebenso gezielte Förderung wie Kinder mit AD(H)S – aber in unterschiedlicher Weise.
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Interdisziplinär denken: Eine Zusammenarbeit von Pädagog:innen, Psycholog:innen, Kinderärzt:innen und ggf. Neurolog:innen oder Psychiater:innen ist sinnvoll.
Fazit
Die Unterscheidung zwischen Hochbegabung und AD(H)S ist komplex und verlangt eine genaue, wissenschaftlich fundierte Diagnostik. Überschneidungen im Verhalten können leicht zu Missverständnissen führen – insbesondere, wenn Kinder nicht ihrem Entwicklungsstand entsprechend gefördert oder verstanden werden. Die AWMF-Leitlinien geben klare Empfehlungen für eine sorgfältige Differenzialdiagnostik, die individuelle Lebensrealitäten und Potenziale der betroffenen Kinder berücksichtigt.
Literaturverzeichnis
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AWMF (2023): S3-Leitlinie ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen (AWMF-Registernummer: 028-045). www.awmf.org
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Rost, D. H. (2013): Hochbegabte und Hochleistung. Münster: Waxmann Verlag.
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Perleth, C., & Heller, K. A. (2007): Hochbegabung und Underachievement. In: J. H. Friedrich & W. Schneider (Hrsg.), Diagnostik von Hochbegabung. Hogrefe.
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Kißgen, R., & Schlüter-Müller, S. (2021): Klinische Kinderpsychologie und -psychotherapie. Springer Verlag.
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Preckel, F., & Vock, M. (2013): Diagnostik und Förderung von Hochbegabung in Schule und Unterricht. Beltz.
Weitere Informationen und Hilfe
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